Essay von Dr. Ellen Markgraf

Der Weg vom Eindruck zum Abdruck als Ausdruck – über Ästhetik in der Kunst

Zu den Arbeiten von Valentin Gerstberger

Eine Hinweistafel hängt an einem Zaun und bei genauerem Hinschauen erfährt der vorbei-Gehende, dass dieser Gedenkstein an die Schließung eines letzten Eisenerzbergwerkes erinnert. Es ist ein kurzer Prozess, die wenigen Zeilen zu lesen, aber ein langer Weg, sich zu vergegenwärtigen, was zwischen den Zeilen zu denken ist. Große und kleine Kapitel der Menschheitsgeschichte werden in der Form solcher Gedenktafeln oder auch größerer Denkmale erinnernd wach gehalten.

Eine solche Gedenktafel bezeichnet man nicht als Kunst; bei einem Denkmal ist die Definition schon schwieriger. Wie stehen Kunst und Erinnerung in diesem spezielleren Kontext zueinander?

Der Künstler Günther Demnig erinnert mit seinen „Stolpersteinen“ an die Judenverfolgung; er legt sie uns gleichsam in den Weg, im Grunde unübersehbar und dennoch soll es vorkommen, dass Menschen nicht „stolpern“.

Valentin Gerstberger hat für die Umsetzung seiner Wahrnehmung von Welt die Frottage entdeckt, jedes Kind probiert es aus und reibt eine Münze durch das Papier und für die Kunst hat Max Ernst diese Form der Aneignung von Wirklichkeit, nichts anderes bedeutet Ästhetik (aisthesis im Griechischen) entdeckt und praktiziert.

Die Arbeit als Redakteur bei einer Zeitung hat den studierten Grafiker Valentin Gerstberger bereits im Rahmen eines anderen Projektes mit Druckmitteln als Ausdrucksform inspiriert und die Ergebnisse wurden im Rahmen einer Ausstellung und eines Kataloges zum Thema „Zeitung“ präsentiert.

Zeitungen beschäftigen sich mit dem aktuellen Weltgeschehen. Sie stellen dar und das heute ist morgen schon gestern. Die Kunst und ihre Mittel sind in der Regel langlebiger, es sei denn, es handelt sich um performatives Tun.

Zurück zu dem Gedenkstein, der an einem Zaum hängt, um an Geschichte und Geschichten zu erinnern. Ein Hochformat gibt den Zaun – Ausschnitt mit Ornament und eben der Tafel wieder. Rote Farbe für den Zaun und die Tafel und (Himmel-) Blau im Hintergrund. Ein neues Bild ist entstanden durch das Frottieren des Motivs, die farbige Umsetzung und die Gestaltung der Komposition. Im Unterschied zu dem fest montierten Schild kann das Bild auf Reisen gehen, in Galerien und Museen oder auch an anderen Orten gezeigt werden. Es macht neugierig, zunächst im Sinne des künstlerischen Ausdrucks, aber auch im Hinblick auf den frottierten Gegenstand und die Situation. Im günstigen Fall erweckt die künstlerische Umsetzung die Neugier auf das ‚Original’.

Die Aneignung des ausgewählten Motivs über das Abreiben lässt für den Künstler eine besondere Nähe entstehen, eine Verbindung und durch diese Verbindung besteht auch für die Betrachtenden eine andere Möglichkeit der Wahrnehmung der Tafel, des Steins, der zum Gedenken anregt.

Kanaldeckel sind Wegmarken, die weltweit zu finden sind. Sie haben unterschiedliche Erscheinungsformen, Muster und Beschriftungen variieren. Wen interessiert schon ein Kanaldeckel, ein notwendiges Ding im alltäglichen Zusammenhang. Die Fülle der Möglichkeiten, wie ein einzelner Kanaldeckel aussehen kann, nimmt man im Grunde nur wahr, wenn man sie näher zusammen sehen und sie miteinander vergleichen kann.

Der Künstler hat seinen Lebensmittelpunkt in Wetzlar, in der Stadt, in der auch die Firma Buderus zu Hause ist. Hier werden Kanaldeckel hergestellt und von hier aus gehen sie auf Reisen. Auch Valentin Gerstberger ist auf Reisen gegangen und hat Kanaldeckel ausgesucht und aufgesucht, ausgerüstet mit seinen Materialien für den Abdruck.

Hier zeichnet den Deckel ein Ornament aus, als Relief zwar wahrnehmbar, aber als frottiertes Bild viel deutlicher erkennbar. Dort steht das Wort „Danger“ im Zentrum des Kanaldeckels und wird auch zur Mitte der neuen Komposition. Aus dem Zusammenhang der ursprünglichen Funktion und Verwendung genommen, wird die Schrift und das sie umfassende Ornament zu einer eigenständigen Komposition.

Der Künstler geht in die Knie, reibt die Schrift, die Symbole sorgfältig ab, um die Komposition im Anschluss einerseits zu belassen oder sie andererseits weiter farbig zu gestalten. Bilder entstehen und im Atelier oder in der Ausstellung begegnen sich die funktionalen Gegenstände aus verschiedenen Städten, kulturellen Kontexten und kommunizieren untereinander und mit den Betrachtenden, die diesem alltäglichen Gegenstand ansonsten kaum oder gar keine Aufmerksamkeit schenken würden. Der Prozess des Betrachtens und Erfassens mit den Augen entspricht dem Prozess des Entstehens: eine weitere Form der Aneignung von Wirklichkeit.

Marcel Duchamp hat zu Beginn des 20.Jahrhunderts den alltäglichen Gegenstand für die Kunst kultiviert, seitdem gehört er zu den Mitteln der Darstellung für zeitgenössische oder zeitgemäße Kunst.

Valentin Gerstberger stellt nicht den entdeckten Kanaldeckel selbst aus, sondern die Komposition, an der der Kanaldeckel jedoch maßgeblich beteiligt ist und auch der ist nach dem Erstellen der Frottage nicht mehr der gleiche Gegenstand wie zuvor.

Die künstlerische Aktion hinterlässt Spuren, auch wenn sie nicht sichtbar sind!

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern sie macht sichtbar.“ (Paul Klee)

Dr. Ellen Markgraf
Kunsthistorikerin
www.ellenmarkgraf.de